Cover
Titel
Modernizace na pokračování. Společnost v českých zemích (1770–1918)


Autor(en)
Štaif, Jiří
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
401 Kč
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Filip Bláha, Centre for Higher Education Studies, Prag

In seinem neuesten Buch widmet sich Jiří Štaif der gesellschaftlichen Modernisierung in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert – einem Thema, das sich als roter Faden bereits durch seine vorherigen Monographien über den „vorsichtigen“ Aufstieg der tschechischen Nationalelite im Vormärz1 und über den tschechischen Historiker und Nationalpolitiker František Palacký (1798–1876)2 zieht. Die Modernisierung zeigt sich darin in unterschiedlicher Gestalt: Im ersten Fall wird sie im Handeln einer nach gesellschaftlichem Aufstieg strebenden Elite greifbar, die ein neues, „modernes“ Kulturkonzept entwickelt, im zweiten Fall im Denken eines Intellektuellen, der im tschechischen Volk einen historischen Träger „moderner“ demokratischer Tugenden sieht. Zum titelgebenden Sujet avanciert die Modernisierung erst in der jüngsten Publikation „Modernisierung mit Fortsetzung. Die Gesellschaft in den böhmischen Ländern (1770–1918)“.

Štaif gliedert das Buch in eine Einleitung, sechs thematische Kapitel, ein Fazit, Anmerkungen und eine englische Zusammenfassung. Es folgen ein Tabellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Namensregister. Räumlich fokussiert er das gesamte Gebiet der böhmischen Länder (Böhmen, Mähren, Schlesien3). Mit 1770–1918 analysiert er eine Zeitspanne, in der die Modernisierung zum prägenden gesellschaftlichen Faktor geworden sei. Schon der Buchtitel, den man als „Modernisierung mit Fortsetzung“ ins Deutsche übertragen könnte, verrät viel über seine Art, das Thema zu erschließen. Die Modernisierungsprozesse werden in sechs chronologisch aufgeteilten Kapiteln (1770–1815, 1815–1848, 1848–1860, 1860–1890/1893, 1890/1893–1914, 1914–1918) dargestellt. Auf diese Weise entsteht das Bild eines Prozesses, der sich keineswegs kontinuierlich vollzog, sondern in verschiedenen Zeiten verschiedene Dynamiken aufwies. Denn die Modernisierung in den böhmischen Ländern war Štaif zufolge durch Spannungen zwischen dem Staat und der aufsteigenden Bürgergesellschaft sowie zwischen den einzelnen Nationalgesellschaften geprägt. Dies hatte positive und negative Folgen für den Modernisierungsprozess: Manche Modernisierungsansätze (z.B. die Föderalisierung der Monarchie) wurden abrupt beendet, andere gerieten ins Stocken (z.B. nach der Dezemberverfassung 1867, die eine gesellschaftliche Demokratisierung angebahnt hatte) und mussten durch die Akteure erst „redefiniert“ und „fortgesetzt“ werden. Treffender ließe sich daher vielleicht von einer „Modernisierung auf Raten“ sprechen.

Um das Thema konzeptionell zu fassen, wählt Štaif die Metapher des Spiels im Sinne einer sich ständig wandelnden Komposition. Die gesellschaftliche Interaktion lasse sich entweder als ein harmloses, kreatives Spiel oder als Wettbewerb betrachten. Auf diese Weise entstehen unterschiedliche Spielräume, die durch die handelnden Akteure „kodiert“ werden. Als wichtige raumgestaltende Elemente betrachtet er die Machtverhältnisse in der Habsburgermonarchie, soziale Ungleichheit, nationsbildende Prozesse, Ethnizität, Kultur und Gender (S. 7–16). Einen eigenen spieltheoretischen Ansatz zur Modernisierungsforschung entwickelt Štaif allerdings nicht. Er lässt sich vielmehr durch unterschiedliche konzeptionelle Zugänge (z.B. von Huizinga, Schumpeter, Sewell jr., Třeštík, Macura) inspirieren, die er in einen relativ lockeren Interpretationsrahmen projiziert.

Ein solcher Zugang zeigt sich als ausreichend dort, wo Modernisierungsprozesse beschrieben werden, die noch in den Kinderschuhen stecken. Deswegen überzeugt Štaifs Interpretationsrahmen bis zum dritten Kapitel (bis 1860) durchaus. Die hier geschilderten Prozesse sind relativ überschaubar und bieten ihm die Möglichkeit, die „spielerischen“ Interaktionen der Akteure bildhaft darzustellen. Als problematisch erweist sich der Spielbezug jedoch für die Analyse der Zeit nach 1860 als sich die Modernisierungsprozesse zu verdichten begannen. In dieser Zeit entstanden im raschen Tempo neue „Spielräume“, die Zahl von Akteuren, die neue "spielerische" Konstellationen eingingen, stieg explosionsartig an. Dies führt dazu, dass Štaif letztlich nur ausgewählte Beispiele näher betrachten kann. Am deutlichsten zeigt sich dieses Defizit im fünften Kapitel (1890/1893–1914), wo er zunächst überraschend viel Platz theoretisch-methodologischen Überlegungen zum Thema sozialer Schichtungsmodelle widmet, die man eher in der Einleitung erwarten würde. Es folgen Unterkapitel zur Rolle des öffentlichen Intellektuellen im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung, eine nähere Darstellung von T. G. Masaryks Überlegungen zur sozialen Frage und den Demokratisierungsansätzen innerhalb der tschechischen Nationalgesellschaft sowie eine Darstellung der Bemühungen, die die Wiener Regierung unter Ernst von Koerber (reg. 1900–1904) erfolglos unternahm, um die nationalen und sozialen Spannungen zu mildern. Nur am Rande werden dabei wichtige Modernisierungsprozesse erwähnt, die gerade in den 1890er-Jahren global an Dynamik gewannen – die Verstädterung, die elektrotechnische Revolution oder der Aufstieg der Konsumgesellschaft, ganz zu schweigen von ihren Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft der böhmischen Länder.

Dabei hätte gerade die Verstädterung eine gute Möglichkeit eröffnet, um Modernisierungsprozesse aus einem äußerst spannenden Blickwinkel zu thematisieren. Die unangefochtene Rolle Prags als historische Landesmetropole und ihre Entwicklung zur modernen Großstadt hatte nämlich umfassende Auswirkungen auf die politische, soziale sowie kulturelle Modernisierung der tschechischen Nationalgesellschaft, da die tschechische nationale Wiedergeburt im Vormärz eine urbane Erfahrung und von Beginn an eng mit Prag verbunden war. Darüber hinaus lieferte die großstädtische Modernität um die Jahrhundertwende wichtige Impulse, die die Gesellschaft der böhmischen Länder in Technik, Bildung, Kultur und Lebensqualität prägten.

Als wichtige Träger gesellschaftlicher Veränderungen hebt Štaif die Arbeiter- und Frauenbewegung hervor. Andere Modernisierungsakteure und -faktoren beachtet er im Gegensatz dazu leider sehr wenig. Das betrifft unter anderem wirtschaftliche Prozesse und die jüdische Emanzipation. Dabei hätten die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen sehr gut aus der Perspektive jüdischer Akteure diskutiert werden können. Als Angehörige einer ausgestoßenen religiösen Minderheit ebenso wie als selbstbewusste Vertreter der liberalen Bürgerschicht bewegten sie sich durchweg in einem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und antisemitischer Ausgrenzung.

Diskutabel erscheint auch das abschließende Kapitel, wo die Geschehnisse nur bis zum Oktober 1918 reflektiert werden, ohne die tschechische Nationalrevolution am 28. Oktober und die Entstehung des selbstständigen Staates ausführlicher zu thematisieren. Dass Štaif hier nur auf die reiche Literatur verweist, die zum hundertjährigen Jubiläum der Entstehung der Tschechoslowakei erschienen ist, verwundert, weil die Gründung eines autonomen Staates wahrscheinlich die wichtigste Modernisierungszäsur der modernen tschechischen Geschichte darstellte. Viele der im 19. Jahrhundert angestoßenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Modernisierungsprozesse fanden mit der Entstehung des tschechoslowakischen Staates ihren Abschluss. Zugleich wurde die Modernisierung unter neuen Bedingungen „fortgesetzt“. Durch die Pariser Vorortverträge 1919/1920 und die demokratische Verfassung von 1920 entstanden neue Spielräume. Mit Blick auf die Dynamik der Modernisierungsprozesse erscheint die Beendigung des 19. Jahrhunderts im Jahr 1918 für die böhmischen Länder nicht ganz überzeugend.

Darüber hinaus wäre eine globale Perspektive auf das Thema bereichernd gewesen. Štaif bezieht sich räumlich überwiegend auf die böhmische, mährische oder schlesische Modernisierung. Auch wenn er die gesellschaftliche Modernisierung in den böhmischen Ländern punktuell in Verbindung mit anderen Modernisierungen in der Habsburgermonarchie setzt, wäre eine systematische Reflexion von Zusammenhängen im gesamten österreich-ungarischen Staatsgebilde, wie sie etwa Jana Osterkamp zum Thema Föderalisierung vorgelegt hat4, für das Thema sicher gewinnbringend.

Alles in allem bietet Štaif in seinem Buch einen eher lückenhaften Überblick über die gesellschaftliche Modernisierung in den böhmischen Ländern. Auch wenn der Spiel-Zugang innovativ erscheint, hätte dem Thema ein stärker strukturierender Ansatz gutgetan, der politische, soziokulturelle sowie wirtschaftliche Modernisierungsprozesse und deren Verflechtungen komplexer erfassen kann. Abgesehen von diesen Kritikpunkten kann das Buch aber als ein nützliches Kompendium und als willkommener Ausgangspunkt für alle empfohlen werden, die sich der Gesellschaftsgeschichte der böhmischen Länder im 19. Jahrhundert zuwenden möchten.

Anmerkungen:
1 Jiří Štaif, Obezřetná elita. Česká společnost mezi tradicí a revolucí 1830–1851 [Vorsichtige Elite. Die tschechische Gesellschaft zwischen Tradition und Revolution 1830–1851], Prag 2005.
2 Jiří Štaif, František Palacký. Život, dílo, mýtus [František Palacký. Leben, Werk, Mythos], Prag 2009.
3 Mit „Schlesien“ ist der Teil Oberschlesiens gemeint, der nach dem Pariser Frieden (1763) der Habsburger Monarchie zugesprochen wurde und als Österreichisches Schlesien im Verband der böhmischen Länder blieb.
4 Jana Osterkamp, Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (bis 1918), Göttingen 2020.

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